Fragen Sie Reich-Ranicki

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.4.2003

Ich habe Ihnen vor einiger Zeit meinen ersten Roman zugeschickt, Sie aber haben mir nie geantwortet. Warum?
Sibylle Zöllner, Groß-Umstadt

Mir werden leider täglich Manuskripte von Romanen, Erzählungen oder Gedichten, Erinnerungen und Tagebüchern zugeschickt. Die Begleitbriefe enthalten häufig Schmeicheleien: Der Schreiber schätze und bewundere mich außerordentlich und bitte mich daher um die Beurteilung (oft heißt es: möglichst streng und ausführlich) seiner Arbeit, die dreißig oder dreihundert, gelegentlich sogar achthundert Seiten umfasst.

Jeder zweite Briefschreiber kommt nicht umhin, meinen wahrscheinlich täglich überfüllten Papierkorb zu erwähnen, was ihn aber nicht hindern könne, mir seinen, wie er meint, ganz außergewöhnlichen Roman vorzulegen. Debütanten im Alter von über siebzig, mitunter auch über achtzig Jahren verweisen meist auf Fontane, weil sie fälschlicherweise vermuten. auch er hätte erst in so vorgerücktem Alter mit dem Schreiben begonnen.

Ich lese kein einziges dieser Manuiskripte, keine einzige Zeile. Ich sende nichts zurück, auch dann nicht, wenn Rückporto beigelegt ist. Das sei unschön? Nein, unschön ist, daß mich rücksichtslose Menschen immer wieder belästigen. Wie auch immer: So ist es, und ich will und kann es nicht ändern. Der Grund ist sehr einfach: Meine Arbeit nimmt meine ganze Zeit in Anspruch. Ich muß, will ich meinen Beruf ausüben, alle Störungen konsequent abwehren. Darum handelt es sich: um Selbstverteidigung.

Und wenn mir auf diese Weise - werde ich mitunter gefragt - etwas Bemerkenswertes entgeht? Das muß ich in Kauf nehmen. Es gibt da einen Trost: Die Erfahrung lehrt, daß die sehr seltenen Manuskripte, die wenigstens eine minimale literarische Begabung erkennen lassen, früher oder später einen Verlag finden.

Jedenfalls: Die Prüfung von Manuskripten ist Sache der Verlagslektoren. der Zeitungs- und Rundfunkredakteure. der Dramaturgen. Die Kritiker hingegen - ich spreche hier auch im Namen vieler Kollegen - bitten dringend, sie in Ruhe zu lassen.

Publikation bei literaturkritik.de mit freundlicher Genehmigung des Autors

 

Letzte Änderung: 24.8.14

 

 

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